Andacht Heute

Wenn Appelle uns antreiben

Friedemann Schulz von Thun hat ein Kommunikationsmodell entwickelt, in dem er beschreibt, wie wir eine Nachricht aufnehmen. In diesem Sinne können wir den Vers aus Galater mit unterschiedlichen „Ohren” vernehmen:

  • Sach-Ohr: Paulus beschreibt ein Prinzip des christlichen Lebens in Gemeinschaft, nach dem Lasten gemeinsam getragen werden.
  • Beziehungs-Ohr: Gott bzw. Paulus erklärt mir, dass dieses gegenseitige Unterstützen ein Ausdruck von Nähe und Solidarität ist.
  • Mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr hören wir aus dem Satz von Paulus etwas über seine persönliche Überzeugung, die er selbst erlebt hat.
  • Appellohr: Darin steckt die Aufforderung zur tätigen Nächstenliebe.

Wenn ich die Bibel immer nur mit dem Appellohr lese, begebe ich mich in die Gefahr der Überforderung. Dann sage ich mir in diesem Beispiel: „Ich muss immer helfen, sonst erfülle ich das Gesetz Christi nicht.“ Damit wird dieser Vers zu einer moralischen Last, der ich nicht immer genügen kann, was mich letztlich enttäuscht zurücklässt. Versuchen wir stattdessen, den Vers so zu betrachten, wie er wirklich ist, d. h. mit allen vier Ohren.

Sachlich: Eine christliche Gemeinschaft funktioniert durch gegenseitige Unterstützung.
Beziehung: Im Miteinander bin ich bin getragen und darf andere tragen.
Selbstoffenbarung: Paulus spricht aus dieser gelebten Erfahrung.
Appell: Auch ein Impuls zur Hilfsbereitschaft geht davon aus.

Wenn wir die Bibel nicht allein mit einem Ohr lesen und darin nicht nur Aufforderungen an uns wahrnehmen, werden wir uns nicht so leicht getrieben fühlen. Schließlich ist lange nicht jeder Satz der Heiligen Schrift mit einem Ausrufezeichen versehen, der uns zum Handeln drängt. Lassen wir uns nicht von uns selbst oder anderen unter Druck setzen, nur weil wir auf Appelle so stark reagieren.

Moralisierende Besserwisserei

Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden.
Lukas 14,11

Sicher hat jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er bei einer gesellschaftlichen Streitfrage auf zähen Widerstand gestoßen ist, der offensichtlich von großer moralischer Selbsterhöhung geprägt war. Ohne es ausgesprochen zu haben, schien die Person zu denken: „Ich mache es richtig, die anderen irren sich.“ Doch wer sich selbst zum Maßstab setzt, schließt andere Perspektiven aus und verhindert den Dialog. Wer ständig andere Meinungen als „falsch“ abstempelt, verliert Vertrauen und Nähe und gerät in soziale Isolation. Beziehungen leben von gegenseitiger Anerkennung, nicht von moralischer Überlegenheit. Außerdem ist jemand, der glaubt, dass sein Standpunkt der einzig richtige ist, weniger offen für Lernen und Veränderung. Menschen entwickeln sich durch Irrtum und Korrektur.

Dabei gibt es in vielen Lebensbereichen nicht nur einen „richtigen“ Weg, sondern mehrere gute Möglichkeiten. Wer andere moralisch verurteilt, übersieht leicht die eigenen Schwächen. Jesus’ Wort „Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Mt 7,3) sollte uns zu denken geben. Das Eingeständnis der eigenen Fehlerhaftigkeit tut jedem Dialog gut.

Mehr als nur Anfang und Ende

Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.
Offenbarung 22,13

Unsere menschliche Zeitwahrnehmung ist durch Chronologie geprägt. Uns erscheint das Dasein als Abfolge von Geburt, Leben und Tod. Auch unser Alltag ist geprägt von chronologischen Abläufen, die durch Uhren und Kalender strukturiert werden. Um uns zeitlich zurechtzufinden, brauchen wir Orientierung und stellen Fragen wie: „Wann fängt es an? Wann hört es auf?” Als alter Mensch erinnert man sich an Lebensabschnitte wie Schulzeit, Beruf und Ruhestand, die klar voneinander abgegrenzt sind.

Wir können allenfalls eine Ahnung davon haben, wie Gott die Zeit wahrnimmt. Als Schöpfer der Welt benötigt er mit Sicherheit keine Uhren und keine Kalender. Er ist ja Anfang und Ende der Zeit. Wenn uns das einigermaßen klar ist, dürfen wir uns in die umfassende Zeit Gottes eingebettet fühlen. Jesus Christus begleitet uns nicht nur von der Geburt bis zum Tod, sondern trägt unser Leben bis in die Ewigkeit. Auch wenn wir nur „Abschnitte“ erkennen, dürfen wir sicher sein: Gott sieht unser kleines Leben als Teil eines großen Ganzen. Er schenkt uns die Hoffnung, dass unser Ende auf Erden nicht das Ende ist, weil auch wir Teil des unermesslich großen Horizonts unseres gnädigen Gottes sind.