Ja, ich bete darum, dass ihr seine Liebe versteht, die doch weit über alles Verstehen hinausreicht, und dass ihr auf diese Weise mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werdet, das bei Gott zu finden ist.
Epheser 3,19
Der von mir sehr geschätzte, inzwischen emeritierte Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte Albert Meier hat in einem kurzen Aufsatz zur Problematik der Epocheneinteilung eine bedenkenswerte Feststellung formuliert. Um überhaupt „vernünftig darüber reden“ zu können, brauche es Begriffe wie Klassik und Romantik. Diese Schematisierungen sind unverzichtbar, bedürfen aber der ständigen Selbstkontrolle im Hinblick auf den jeweiligen Zweck und dürfen nicht dazu verleiten, die Besonderheiten des vorliegenden Textes aus den Augen zu verlieren. Dies sollte uns auch eine Mahnung sein, wenn wir uns mit dem Wort der Bibel beschäftigen.
Bei der Auslegung eines einzelnen Textes geraten wir leicht in die Gefahr, alles auf systematisch-theologische Fachbegriffe (wie Rechtfertigung, Prädestination, Gnadenzeit und andere) reduzieren zu wollen und dabei allzu leicht in dogmatische Festlegungen und Urteile zu verfallen. Dabei wird dem einzelnen Text nicht selten Gewalt angetan, so wie eine wunderschöne Pflanze schnell von der Hand eines unsensiblen Botanikers zerrissen wird, der kein Auge mehr für ihre besondere Ästhetik hat und beim Sezieren nur noch sein Schema im Kopf hat. Noch einmal: Ohne Begriffe geht es nicht, aber sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden und unsere Aufmerksamkeit einengen. Wenn wir das Wort Gottes in seiner ganzen Vielfalt wahrnehmen, wird es auch in unser Herz fallen und wir werden „mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werden“.